Wenn Seifenblasen platzen!

26.12.2015

Tagtäglich sind die Zeitungen voll über Flüchtlinge und die Balkanroute – über die Zustände vor Ort wird jedoch kaum berichtet. Jonas Hasenfratz, Vorstandsmitglied der JUSO Aargau, ist gemeinsam mit sieben Helfenden nach Kroatien, Slowenien und Italien gereist und hat sich selber ein Bild verschafft. Hier sein eindrücklicher Erlebnisbericht.

1 Slavonski Brod
Am 27. November ging die Reise nach Zagreb los. Ich wusste nicht genau, was mich bei dieser Hilfslieferung erwarten würde und dementsprechend nervös war ich auch. Wir waren zu acht mit drei Fahrzeugen. Zwei kleinen Transportern, die bis oben hin mit Kleidersäcken gefüllt waren, umgerechnet rund 3.2 Tonnen Winterkleidern, Schlafsäcken und Decken, und einem Auto. Die Reise verlief ruhig und wir waren nach zehn Stunden Fahrt sicher in Zagreb angekommen. Geplant war, die Kleiderlieferung in ein Gebäude eines Hilfswerkes ausserhalb von Zagreb zu bringen. Wir trafen eine junge Frau, Sanja, die sich in Kroatien für die Hilfsorganisation „Are You Syrious ?“ engagiert und unsere Kontaktperson in Kroatien war. Gemeinsam fuhren wir zur Zentrale der Hilfsorganisation „ADRA“ in Slavonski Brod. Wir räumten die beiden vollgefüllten Transporter und brachten die Kleidersäcke in das Gebäude der Hilfsorganisation. Die Organisation wird die Kleider sortieren und sie dann auf die Zentren in der Nähe verteilen, je nach dem, was wo gebraucht wird.
Nach dem Abladen unserer Transporter fuhren wir in das Transitlager am Ortsrand von Slavonski Brod, welches sich im Osten von Kroatien an der bosnischen Grenze befindet.
Was bei der Ankunft sofort unsere Aufmerksamkeit erregte, war die enorme Polizeipräsenz vor dem Transitlager. Mehrere Reihen Polizeiautos waren dort geparkt und stark ausgerüstete Polizeibeamte bewachten das Camp, das durch Gitter abgesperrt war. Wiederum half uns die Organisation ADRA, um in das Camp zu gelangen. Bevor wir Einlass in das Lager erhielten, wurden unsere Personalien genauestens überprüft und wir mussten einen Sicherheitscheck absolvieren, wie er normalerweise am Flughafen vollzogen wird. Als wir die Schranken passierten, konnten wir das Lager Slavonski Brod betreten. Bei unserem Besuch war das Lager fast verlassen. Es befanden sich kaum Flüchtlinge vor Ort. Seit den neuesten politischen Entscheidungen auf europäischer Ebene sind in der EU und somit auch in diesem Camp nur noch Menschen aus dem Irak, Afghanistan und Syrien akzeptiert. Flüchtlinge aus anderen Staaten werden dort nicht untergebracht. Offiziell hat das Lager Platz für etwa 5’000 Menschen, inoffiziell können bis zu 10’000 Menschen untergebracht werden. Die Flüchtlinge werden auf verschiedene Zelte verteilt. Jedes Zelt bildet einen Sektor, welcher Platz für rund 1’000 Personen bietet und dann wieder unterteilt ist in Zeltabteilungen. Die Schlafplätze sind doppelstöckige Kajüten-Betten aus Metallgerüsten und Spanplatten, die so aneinandergereiht sind, dass rund 50 bis 100 Menschen in diesem Zeltabteil übernachten können. Auf die Betten kommen keine Matratzen. Die Flüchtlinge müssen auf den Spanplatten übernachten. Ein solches Zeltabteil erinnert eher an Massenviehhaltung, als an eine Unterkunft für Menschen. Sanitäre Anlagen gibt es pro Sektor. Das Angebot ist aber mehr als dürftig. Etwa 20 Dixi-Klos für einen Sektor und drei bis vier Duschen werden zur Verfügung gestellt. Wir waren alle schockiert, als wir sahen unter welchen Verhältnissen die Flüchtlinge in diesem Transitlager leben müssen. Auch wenn die Menschen dort nur wenige Stunden bis evtl. einige Tage ausharren müssen (kommt ganz auf den Weitertransport an), sind diese Unterkünfte nicht menschenwürdig.
Ziemlich geschockt, wegen des Gesehenen und eingeschüchtert durch die riesige Polizeipräsenz, verliessen wir das Lager Slavonski Brod und waren alle froh, hatten wir das Glück in einem echten Bett übernachten zu können, anstatt auf einer harten Holzplatte.
2 Dobova
Am nächsten Morgen ging es wieder um 9 Uhr los. Wir waren mit unserer Kontaktperson in einem Einkaufszentrum in Zagreb verabredet, um dort mit einem Teil der gesammelten Spenden Winterschuhe für Flüchtlinge in dem Transitlager „Dobova“, welches an der slowenischen und kroatischen Grenze in der Nähe, westlich von Zagreb liegt, zu kaufen.
Als wir den Schuheinkauf vollzogen hatten, fuhren wir weiter zu einem Supermarkt, um auch noch Lebensmittel für das Transitlager in Dobova zu kaufen. Als wir unsere beiden Transporter mit Schuhen und Lebensmitteln beladen hatten, ging die Reise weiter nach Dobova, aber lediglich mit einem Transporter, da es eine Planänderung gab. Unsere Kontaktperson aus Kroatien erhielt von einer Bekannten, welche in Koper an der slowenisch- italienischen Grenze lebt, eine Anfrage. Es würden dringend Nahrungsmittel für obdachlose Flüchtlinge in Triest (I) benötigt. Also nahmen wir nur die Hälfte des Einkaufs nach Dobova mit und liessen den zweiten Transporter in der Nähe von Zagreb stehen, um ihn am nächsten Tag für die Fahrt nach Triest wieder abzuholen.
In „Dobova“ angekommen erwartete uns das gleiche Bild. Unfassbare Polizeipräsenz inklusive Sicherheitskräften mit Maschinengewehren. Wir wurden von unserer Kontaktperson angewiesen keine Fotos in Dobova zu machen, da dies Konsequenzen für alle Hilfswerke in diesem Lager haben könnte. Dies erklärte uns auch der Koordinator des Slowenischen Hilfswerks „Slovenska filantropija“, durch welches wir Einlass in das Lager erhielten. Er teilte uns mit, dass Regelverstösse von freiwilligen Helfer_innen von der sehr restriktiven Polizei stark geahndet werden und sogar den Rauswurf sämtlicher Hilfsorganisationen verursachen könnte Deshalb wäre es besser, wenn wir keine Fotos schiessen würden oder nur dann, wenn wir uns ganz sicher waren, dass es niemand von der Polizei beobachten würde.
Zurzeit als wir im Lager angekommen waren, befanden sich rund 400 Flüchtlinge dort in einem Zelt. Der Koordinator, der uns erklärte, was wir für Arbeiten zu erledigen hätten, erläuterte uns, dass die Flüchtlinge (aus Syrien, Afghanistan und Irak) in Busse verfrachtet und dann nach Österreich weiter transportiert würden.
Bevor die Leute die Busse besteigen konnten, wurden wir angewiesen ein leeres Zelt zu reinigen. Wir erhielten Latexhandschuhe und einen Mundschutz für die Arbeit im Zelt (erst später erfuhren wir, dass Tuberkulosefälle im Lager in „Dobova“ festgestellt wurden). Das Zelt war als Übernachtungsstätte gedacht. Es hatte einen Holzboden auf dem die Flüchtlinge übernachteten und Wolldecken plus ein paar Campingmatten. Als wir das Zelt gereinigt und die Wolldecken zusammengelegt hatten, konnten wir beobachten, wie die Flüchtlinge aus dem anderen Zelt in die Busse verladen wurden. Neben dem Zelt zeigte sich ein erschreckendes Bild. Einige Flüchtlinge standen vor Dixi-Klos an und wurden von drei Militärs mit Maschinengewehren bewacht. Wir verstanden nicht, was das soll. Doch die Stimmung änderte sich auch beim Abtransport nicht. Polizist_innen ausgerüstet mit schusssicheren Westen, Schlagstöcken und Pistolen koordinierten die Verteilung der Flüchtlinge auf die Busse. Die Polizist_innen liessen immer rund 15 Flüchtlinge aus dem Zelt, die dann durch Gitterabsperrungen bis zu den Bussen gelangten. Die Polizist_innen agierten sehr unfreundlich und in lautem Ton, schrien die Flüchtlinge an, wenn sie nicht sofort das taten, was sie verlangten. Die Leute, die wir aus den Zelten kommen sehen konnten, sahen verängstigt aus, gebrandmarkt von den Traumata des Krieges, der langen Reise und den Strapazen. Der Weg von dem Zelt zu den Bussen, der abgesperrt war, erinnerte an einen Viehtransport. Uns war es unbehaglich geworden in diesem Lager, zu sehen wie Familien mit kleinen Kindern, junge Männer und ältere Menschen völlig verängstigt diesen Sicherheitsdurchgang passierten, schnürte mir das Herz ab. Ich hatte noch nie zuvor etwas Ähnliches gesehen und erlebt. Nach dem alle Flüchtlinge auf die Busse verteilt waren, konnten wir unsere Schuh- und Nahrungsmittellieferung im Camp abladen. Gleichzeitig halfen einige von uns das Zelt, welches eben gerade verlassen worden war, zu reinigen. Von anderen Helfer_innen erfuhren wir, dass die nächsten Flüchtlinge möglicherweise um 21 Uhr oder 22 Uhr am naheliegenden Bahnhof eintreffen könnten. Wir verliessen jedoch das Camp Dobova früher, um noch ein wenig Schlaf zu bekommen, denn die Hilfslieferung nach Koper/Triest war um 6 Uhr früh geplant.
3 Koper (Slowenien) und Triest (Italien)
Mit der zweiten Hälfte unserer Nahrungsmittel-Lieferungen brachen wir am Montag, 30. November, Richtung Koper (Slowenien) auf. Wir hatten uns mit unserer Kontaktperson in dem kleinen Städtchen verabredet, um dort die Hilfslieferung abzuladen. Wir konnten die Nahrungsmittel nicht direkt nach Triest fahren, da unsere Kontaktperson meinte, dass wir so einen Aufstand unter den dort lebenden Flüchtlingen auslösen könnten, weil die Verteilung von solchen Mengen an Lebensmitteln vor Ort zu einem Kampf ausarten könnte. Deshalb luden wir die Lieferung in Koper ab und sie erklärte uns, dass sie die Lebensmittel in Lunchpakete abpacken würde, um sie dann in Triest zu verteilen.
Unsere Kontaktperson klärte uns, bevor wir nach Triest aufbrachen, über die Situation in diesem „Lager“ auf. Sie erzählte uns, dass diese Flüchtlingsunterkunft offiziell gar nicht existiert und von den Behörden auch auf Nachfrage verneint wird, obwohl in diesem alten Bahnhofsgebäude von Triest rund 150 junge Männer hausen. Sie erklärte uns weiter, dass sie mehrmals bedroht worden war und dass die Anrufer ihr mitteilten, dass ihr etwas passieren könnte, falls sie diese Arbeit nicht einstellt. Ebenfalls wurde sie mehrfach von der Polizei angehalten und komplett gefilzt, als sie mit dem Auto unterwegs war. Sie hat Angst teilte sie uns mit, Angst, dass ihr etwas passiert, Angst, dass man sie sabotiert oder aus dem Weg räumen möchte.
Wir alle waren nach diesen Erzählungen zum wiederholten Mal komplett fassungslos. Dass solche Dinge in einem Rechtsstaat geschehen lehrt einem das Fürchten.
Darauf „brachen wir die Zelte“ in Koper ab und machten uns auf die slowenische Grenze zu überqueren, um das inoffizielle Lager in Triest zu besuchen. Wir erreichten das alte Bahnhofsgebäude gegen Mittag und sahen sofort mehrere Flüchtlinge vor dem Gebäude. Wir näherten uns ihnen und sie waren sofort bereit, uns zu erzählen, wie es dazu gekommen war, dass sie dort gelandet sind und wie sie hier leben oder besser gesagt existieren. Ein junger Mann aus Afghanistan, Omid, der ein sehr gutes Englisch sprach, erklärte uns, dass in diesem alten Bahnhof ca. 150 junge Männer in selbst gebauten Kartonhütten wohnen, dass die einzigen Wärmequellen kleine Feuer sind und dass es keine sanitären Anlagen vor Ort gibt. Er erzählte, dass sie praktisch keine Unterstützung erhalten und oftmals von den Behörden schikaniert würden. Es war ein grauenhaftes Bild! Improvisierte Kartonhütten und Zelte aus alten Kühlschrankverpackungen und Plastikblachen, kleine Feuer um die sich einige junge Männer scharrten. Das Bahnhofsgebäude ist auf beide Seiten offen und es ist sehr kalt im Inneren und wenn man bedenkt, dass der Winter erst kommt und die Lage noch prekärer wird – denn es fehlt an allem, an Kleidern, Schuhen, Unterkünften und Lebensmitteln – dann ist das mehr als menschenunwürdig. Der junge Mann erläuterte weiter, dass er mit 15 aus Afghanistan geflüchtet war und seit nun neun Jahren auf der Flucht ist. Er spricht neun Sprachen. Kurz darauf stiessen rund acht weiter junge Männer zu uns. Sie waren gerade aus der Stadt gekommen und ganz empört. Sofort sprachen sie unsere Kontaktperson an, die sie schon von früheren Besuchen kannten und berichteten ihr von Vorfällen vom Abend des 29. Novembers.
Sie erläuterten, dass plötzlich mehrere Männer in der Nacht in den Bahnhof eingedrungen waren, alle Feuer der Flüchtlinge löschten und ihre Hütten und Matratzen durchnässten. Sie meinten, es könnte die Feuerwehr und die Polizei gewesen sein. Wir waren schockiert über solch eine faschistoide Methode, gegen hilfsbedürftige Flüchtlinge vorzugehen. Schlicht unvorstellbar!
150 Menschen zu versorgen, ihnen Unterkunft zu bieten und sie zu ernähren ist keine unlösbare Aufgabe, doch scheinbar ist es einfacher sie für inexistent zu erklären und sie zu terrorisieren, um sie los zu werden.
Kurz nach dieser Erzählung mussten wir wieder aufbrechen. Wir verabschiedeten uns von den äusserst gastfreundlichen Flüchtlingen und wünschten ihnen viel Glück, was sollte man anderes sagen? Mit gesenkten Köpfen verliessen wir Triest und traten die Heimreise zurück in die Schweiz, zurück in den Wohlstand, zurück in unsere Seifenblase, an.
Diese Hilfslieferung zeigte mir, wie schwierig es ist aus unserer Seifenblase aus Sicherheit und Frieden, die Situation von Menschen auf der Flucht nachzuvollziehen. Es ist unglaublich, was auf der Balkanroute passiert und wie viele dieser traurigen Geschichten nie den Weg zu uns finden. Wir lesen lediglich in den Medien, wie viele Menschen wieder in Deutschland oder Österreich angekommen sind und ob es noch Platz im Boot gibt. Doch die besorgniserregenden Verhältnisse in den Transitlagern Europas und die ergreifenden Geschichten der flüchtenden Menschen, die dringen nur selten zu uns durch. Wir sehen kalte Berichte über Zahlen, aber vergessen, dass es sich um Menschen handelt, Menschen auf der Flucht vor Krieg, Verfolgung, Terror und Armut. Diese Menschen brauchen unsere Hilfe und Europa und die Schweiz sind verpflichtet ihre globale Verantwortung wahrzunehmen und diese Hilfe zu leisten. Diese Menschen brauchen keine Militärs, welche Dixi-Klos mit Maschinengewehren bewachen, sondern Sicherheit und Frieden. Diese Menschen brauchen statt Holzbetten und kalte Duschen sinnvolle Unterkünfte mit einer menschenwürdigen Infrastruktur! Und diese Menschen brauchen vor allem keine Hetze und Hass. Sie brauchen Geborgenheit und Menschlichkeit und die können wir und die kann Europa bieten. Es stellt sich immer die Frage, ob man diese Aufgabe wahrnimmt und dies umsetzt oder überhaupt umsetzen möchte.
Ich empfehle jedem und jeder ein Lager auf der Balkanroute zu besuchen, Hilfe zu leisten, Schicksale kennen zu lernen, denn nur so könnt ihr hautnah erfahren, was wirklich in den Köpfen der Menschen vorgeht und wie die Situation wirklich ist.
Bericht von Vorstandsmitglied Jonas Hasenfratz